Kuratorin

Winterreise - Kunst und Klang

Auszüge aus der Rede zur Vernissage in der Galerie Forum Amalienpark

Die Winterreise verfügt nur über wenige wesentliche Bilder und Motive, deren Geflecht die Gesamtstruktur der zugrunde liegenden Seelenlandschaft konstituiert. In der Reihenfolge der Gedichte ist ein sukzessiv sich entwickelndes psychisches Geschehen abzulesen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Ausstellung KUNST & KLANG selbst wie eine reflektierte Wanderschaft, in der die Motive der „Winterreise“ und solcher Grunderfahrungen wie Täuschung, Desillusionierung und Todesangst immer wieder variiert werden und neu ineinander greifen.

Viele der ausgestellten Werke beziehen sich auf das zentrale Thema: die Wanderung. In Regina Conrads Bildern wird die Konfrontation mit den unterschiedlichen Lichtverhältnissen aufgegriffen und das vielschichtige Bild eines seelischen Zustandes wiedergegeben. „Unzählige Male wird die Wanderung ausradiert“, beschreibt die Künstlerin ihren Vorgang den Zeichnens und Malens. So verschwimmen auch die Konturen der Wanderung im Verlauf der Handlung. Vermag man Anfangs noch eine klare Linie des Weges zu erkennen, so erhält man im Fortgang den Eindruck, als löse diese sich auf, bräche nach und nach ab, um auf einer anderen Ebene doch weiter zuführen.

Heidemarie Kasanowski erweitert den Gedanken: „Dem Zyklischen des Liederkreises ist Wiederholung und Wechsel eigen. Ein tröstlicher Gedanke: Es geht weiter.“ Und sie zitiert eine heutige Variante von Hans Eckardt Wenzel: „Fremd zieh ich ein, fremd zieh ich aus/ und du, du lachst dazu.“ In ihrer kleinen Installation spielt sie mit Symbolen für  Begrenzung und Weite, Hinweisen und Abweisen, Navigation und Verwirrung. Der Ausgangspunkt der Reise und die gegenwärtige Situation haben im Erleben des Wanderers ihre Beziehung zueinander verloren. Durch diesen Bruch wird die Erfahrung von Kontinuität unterbunden. Ein und dieselbe Grundsituation wiederholt sich in vielfacher Variation. Sie verleiht der Wanderschaft den Eindruck von Kreisförmigkeit.

Annette Gundermanns großformatige Bilder greifen das wichtigste Naturmotiv, welches die in der Wanderschaft ablaufende Bewegung vermittelt auf, das Wasser. Die Landschaft, in der es sich bewegt ist weit gespannt, reicht von klarem Rinnen und „Bächlein“ über den „Fluß“ bis hin zum „(Berg-)Strom und sogar zum Meer. Es symbolisiert den Lebensweg eines Menschen. Das Wasser in der winterlichen Umgebung angepasst und erstarrt, rinnt in heißen Tränen um dann wieder zu Eistropfen zu gefrieren. Es gibt keine harmonische Lösung – in dieser Weise reflektiert auch Annette Gundermann ihre künstlerischen Arbeiten, wenn sie von einer „unendlichen Suchbewegung“ spricht „die alle Elemente von Traurigkeit, Abschied und Sehnsucht an sich bindet.“

Die Kunstwerke der Ausstellung illustrieren nicht, sondern basieren auf Assoziationen zu den Texten von Müller. Sie treffen sich mit Klangfolgen von Franz Schubert in der elegischen Stimmung. In den Arbeiten von Thomas K. Müller, Joachim Böttcher und Achim Niemann sind die textlichen und musikalischen Vorlagen bis auf den existentiellen Kern entkleidet, der mit schwermütigen, graubestimmten Farben angedeutet wird: Der „Weg“ ist der Lebensweg und der „Wanderer“ das isolierte Ich. Sie ergeben auf Winter und Gegenwart beziehbare Emotionen.

Ulrike Hogrebe hat in einer Bandbreite von gegenständlichen und abstrakten Motiven kleinformatige Entsprechungen zu den Themen der Winterreise gesetzt. Darunter die drei Sonnen am Himmel, die als Sterne in den Augen der Geliebten zu verstehen sind. Nur sind die Augen zu einem künstlichen Objekt erstarrt. „Ach meine Sonnen seit ihr nicht.“ Die Vorzeichen des Todes wie Hund, Krähe oder Wegweiser werden durch die piktogrammartige Darstellung entfremdet – das Unheimliche damit auf unheimliche Art wieder vertrauter.

In den Kunstwerken der Ausstellung zeigt sich die Aktualität der Müllerschen Texte. Vor dem Hintergrund der Flucht und Vertreibung von tausenden Menschen nach Europa erhält schon das erste Lied im Zyklus eine beklemmende Dimension: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“.
„Diese beiden Zeilen von Wilhelm Müller haben mich die letzte Zeit stark beschäftigt.“ schreibt Kitty Kahane. „Mein Leben zog an mir vorbei, meine Kindheit und Jugend in der DDR, die Zerrissenheit zu meinen Eltern und das späte Verwandeln in Liebe und Achtsamkeit. Die schmerzliche Erkenntnis und Wahrnehmung von Geschichte, auf der Suche nach Vollendung meine Liebe zu verspielen, der Tod meines geliebten Bruders, mein Fernweh, die Sehnsucht und Neugier nach Fremde, das begleitende Gefühl von Einsamkeit, Sehnsucht nach Heimat. Die Leidenschaft am Wandern, das Gefühl der Freiheit.“ Mit einer Zusammenstellung älterer und neuer Arbeiten fügt Kitty Kahane der Winterreise neue Verse hinzu und verdichtet die alten Motiv mit weiteren aus der Gegenwart. Wie die Texte in den Zeichnungen sind auch die Handlungen ihrer Figuren lesbar. Es sind die existentiellen Motive der Winterreise, die in den gezeichneten Blättern der Künstlerin wie Perlen an einer Schnur aufgereiht sind.

Für Christian Ulrich ist das sich Suchen und nicht Finden, das Ausgesetztsein und die Außenseiterrolle von Interesse, wenn er in einem eigenen Vers auf die schwarzweiße Welt  Miron Zwornis verweist, der sich mit seiner Kamera an den düstersten Rand der Gesellschaft begiebt: „Ich will dem Flügel, Einen Ton einschenken, Einen schwarzen Ton, Wie auf den dunklen Fotos von Zownir, Und dann reiße ich den Deckel herunter, Und sperre ihn ein“. Zwei großformatige Blätter von Christian Ulrich zeigen puppenähnliche Gestalten und Glieder in einer Kulisse, die an Theater erinnert. Eine Scheuche ist der Wanderer und hängt wie ein braunes Blatt mit dem Rucksack zwischen zwei Bäumen. In dem Theaterstück „Winterreise“ schreibt Elfriede Jelinek: „Kein Wandern mehr, kein buntes Blatt an den Bäumen mehr zu sehn, [...] kein Wandern mehr, keine Hoffnung mehr, [...]“.

Anton Schwarzbach dokumentiert mit seinen Zeichnungen und Texten eine Wiederannäherung an die Winterreise und wünscht mehrfach ein Aufbegehren gegen die Entfremdung. Aber wie sich lösen aus der Erstarrung, wenn doch genau aus dem Widerspruch heraus die Spannung zunimmt oder wie Anton Schwarzbach schreibt: „Die Kraftlosigkeit, weit entfernt von einem neu oder anders, hat dennoch für mich die eigentliche (pubertäre) Endzeit-Wucht.“ In seinen Bildern zielt er auf zwei Impulse, die in den Müllerischen Gedichten der Wirklichkeitsgewinnung dienen: das Zeichenlesen in der Landschaft und das Zeichenerstellen durch Schreiben.

Die Landschaft der Winterreise präsentiert sich dem, der sie durchwandert als ein zu entschlüsselndes System von Bildern, in welchem die Wirklichkeit nur gespiegelt erscheint. Eng damit verbunden ist der Verlust der Unmittelbarkeit. Die Distanz des Erlebenden zum Erlebnis entspricht einem psychologischen Horizont, der auf die Moderne voraus zuweisen scheint. Die Modernität ist aber nur ein Aspekt der „Winterreise“. Der andere ist die Bindung an die Form des Volkslieds und an die Tradition der Romantik. Gerade in der Spannung zwischen volkstümlicher Sageweise und moderner Wirklichkeitserfahrung liegt die besondere poetische Anziehungskraft des Liederzyklus. Martin Enderlein hat diese besondere Wirkkraft als Maler intuitiv und genial leicht verinnerlicht und aus dieser Haltung heraus Freunde, Förderer und Künstlerkollegen von Franz Schubert porträtiert und Motive der Romantik farbenreich auf die Leinwand gebracht. Sein Spielmann ist der Leiermann in einem anderen Augenblick.

Wenn den Texten von Wilhelm Müller auch Musikalität zugesprochen werden kann, dann ist der Leiermann der musikalischste Text von allen. Das Gedicht greift zwar bereits bekannte Motive wie Winter und Kälte wieder auf, dennoch wirkt es irgendwie anders. Die Perspektive hat sich geändert. Wurde in allen vorangegangenen Gedichten eine äußere Situation auf die Situation des inneren Ichs bezogen, so bleibt im Leiermann bis zum Schluss eine Distanz zum angeschauten Objekt. Zum ersten Mal steht wirklich jemand vor dem Winterreisenden – dem Ich. Der Wanderer trifft auf seiner Reise niemanden an, bis auf den Leiermann, er ist der erste, den er anspricht und dem er sich anschließen will.

Für Ellen Fuhr ist es der Tod – muss es unausweichlich der Tod sein. So wie Schubert den eigenen Tod vor Augen hatte, als er die Musik schrieb und die Lieder seinen Freunden sang. „Und er lässt es gehen / Alles, wie es will / Dreht, und seine Leier / Steht ihm nimmer still.“

Ellen Fuhr starb am 19. September im Alter von 58 Jahren. Wir vermissen sie. Als Gründungsmitglied der Galerie Forum Amalienpark war sie engagiert, war sie Mitstreiterin mit konsequenter und ehrlicher Haltung. Mit ihren Werken hat sie das künstlerische Spektrum der Galerie erheblich bereichert. In ihren Holzschnitten sind die Verse der „Winterreise“ mit kantig starken, auf- und gegeneinander gesetzten Schnitten übersetzt. Auf Äußerlichkeiten und Effekte hat Ellen Fuhr verzichtet, die „Winterreise“ konsequent in die eigene Psyche verlegt, in jedes Bild sich selber eingeschnitten. Mit rotem Stift unterzeichnet sie jedes Bildmotiv, schreibt die Verse – will es nochmal sagen, will es immer wieder spüren, will schreiben gegen den zunehmenden Selbstverlust. „Lustig in die Welt hinein“ singt sie nicht aus vollem Herzen, sondern „Gegen Wind und Wetter“ gegen das Herz. Aus dem Wandern müssen ist ein Überleben, ein Singen müssen geworden. Einmal Mut reicht ihr da nicht  – zweimal Mut war immer noch zu wenig.

Das Umschlagen der Isolation aus „Einsamkeit“ in trotzigen Nihilismus verweist auf die Utopie eines künstlerischen Schaffens, das sich seiner Unzulänglichkeit stets bewusst ist. Die Bilder der Ausstellung KUNST & KLANG vereinen alles in sich, was die Künstler ausmacht: Ironie, Pessimismus, Zynismus, tagesaktuelle Geschehnisse aus Politik und Wirtschaft, Gesellschaftskritik sowie persönliche Motive wie künstlerisches Schaffen und Versagen, die Abhängigkeit von Menschen und das Verlieren von Freunden. Wie auch schon Schuberts Winterreise scheinen die bildkünstlerischen Werke in einem Zyklus entstanden. Die Künstler fassen die gleiche Thematik immer und immer wieder auf, in der Ausstellung und auch in ihrem Gesamtwerk, und drehen sich in ihrem Schaffen im Kreis.

Berlin, 24.11.2017, Dr. Simone Tippach-Schneider